Bericht vom WDSF Wertungsrichter-Kongress 2013 in Stuttgart

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Es gehört mittlerweile zur Tradition, dass die WDSF die Ressourcen der GOC (Paare, Trainer und Infrastruktur) für die obligatorische Weiterbildung der Funktionäre nutzt. Nebst der Schulung für Wertungsrichter Standard/Latein und Chairman, wurden in diesem Jahr in Stuttgart zusätzlich die Kongresse für Wertungsrichter der Kategorien Formation, Rollstuhltanz und Showdance durchgeführt.

Der WDSF-Generalsekretär Shawn Tay eröffnete den Kongress Standard/Latein, an welchem rund 270 Wertungsrichter aus 50 Nationen teilnahmen, mit einigen Informationen zur WDSF Academy, der Wertungsrichterausbildung und zu aktuellen Reglementsänderungen. So müssen u.a. alle WDSF-WR einen „General Knowledge Test“ absolvieren, der Gebrauch von Mobile Phones und PDA durch Wertungsrichter an Turnieren wurde eingeschränkt und 2 Wochen vor einem zu bewertenden Turnier dürfen WDSF-WR nicht als Trainer oder Lecturer an einem mit dem Turnier im Zusammenhang stehenden Event engagiert sein. Weiter wurde die WR-Kleiderregelung im Sinne eines einheitlichen Auftritts auch auf alle an einem Turnier im Einsatz stehenden Funktionäre ausgedehnt.

 

 

New Judging System 2.0

Marco Sietas

Der WDSF Sport Director Marco Sietas präsentierte den aktuellen Stand des neuen Wertungssystems. Die Vorteile des nun seit 4 Jahren hauptsächlich an Grand-Slam Turnieren angewendeten Bewertungsmodus sind unbestritten. Durch die absolute Benotung verschiedener Kriterien, erhalten die Athleten und Trainer ein direktes, konstruktives Feedback zu den gezeigten Leistungen, welches auch für die Zuschauer, Medien und das IOC nachvollziehbarer, transparenter und interessanter als die reine vergleichende Wertung mit Platzvergabe ist.
Trotz der vielen Vorzüge, hatte der seit 2009 geltende Modus auch einige Mängel, welche nun mit dem seit der GOC 2013 angewendeten System 2.0 behoben wurden. Durch die Formel „3 Solo- und 2 Gruppentänze“ konnte die Dauer des Finales auf ein erträgliches Mass reduziert werden. Gleichzeitig kommen dadurch sowohl die Befürworter der Solotänze wie auch die Liebhaber des direkten Vergleichs der Paare auf ihre Kosten. Mit der Reduktion von 5 auf 4 Hauptkriterien (je zwei technische und zwei künstlerische) wurde die Komplexität reduziert. Da ein Wertungsrichter zudem neu nur noch ein Kriterium bewertet, lässt sich das System nicht nur für die Solotänze, sondern auch für Gruppentänze im Final bzw. in einem Viertel- oder Halbfinal mit gleichzeitig 8 bzw. 6 Paaren auf der Fläche, anwenden. Bewertet werden neu die 4 Kriterien Technical Qualities (TQ), Movement to Music (MM), Partnering Skills (PS) und Choreography and Presentation (CP) durch je 3 Wertungsrichter, wobei pro Kriterium die höchste und tiefste Note mit nur 50% gewichtet wird. Die Zuteilung der 4 Kriterien auf jeweils 3 Wertungsrichter wechselt mit jedem Paar und Tanz.
Da mit dem Release 2.0 das neue Wertungssystem einen hohen Reifegrad erreicht hat, wird der Einsatz schrittweise auf alle WDSF-Turniere ausgeweitet. Zudem ist das neue System nun auch für den nationalen Einsatz frei gegeben. Da das System skalierbar ist, lässt es sich problemlos auch bei tieferen Klassen einsetzen. So können z.B. in einer D/C-Klasse nur die 2 Kriterien TQ und MM angewendet werden, bei gleichzeitig nach unten angepasster Notenskala.
Die Teilnehmer konnten am Kurs durch Probewerten gleich auch erste Bekanntschaft mit dem neuen System machen. Die wohl grösste Umstellung für den Wertungsrichter besteht darin, sich von der bisherigen gesamtheitlichen Betrachtung eines Paares zu lösen und sich auf genau ein Wertungsgebiet zu fokussieren und sich dabei von den andern Kriterien nicht beeinflussen zu lassen. Die kurze Besprechung nach jedem Tanz verdeutlichte aber auch in Stuttgart einmal mehr, dass die Meinungen und somit Noten teilweise doch stark streuen können. So gab auch Marco Sietas zum Schluss zu Bedenken, dass auch der Release 2.0 kein perfektes System ist und es ein solches im Tanzsport wohl nie geben wird.

 

 

 

New Technique Books

Natasa Ambroz

Natasa Ambroz und Sandro Cavallini präsentierten die neuen Technikbücher, die sie zusammen mit namhaften Experten in rund vierjähriger Arbeit erstellt haben. Und das Resultat kann sich durchaus sehen lassen. Die 10 Bücher (eines pro Tanz!) sind sauber strukturiert und dank moderner Layout-Technik und dem Einsatz von Farbe auch übersichtlicher in der Handhabung, als die bisher bekannten „Referenzwerke“. Das Ziel bestand nun allerdings nicht darin, das Rad komplett neu zu erfinden. So bauen die neuen Bücher u.a. auf den Werken von Howard, Moore und Laird auf. Nomenklatur/Wording sind nun aber im Gegensatz zu den „Urwerken“ konsequent klar umgesetzt und es wurden auch einige Mängel und Ungereimtheiten bereinigt.
Selbstverständlich wurde auch der Entwicklung des Tanzsports Rechnung getragen. So sind stellenweise die Informationen zu Timing, Footposition, Footwork, Actions, Alignement, Turn, Rise and Fall, CBM und Sway feiner aufgegliedert und somit differenzierter und ausführlicher beschrieben und wo nötig auch aktualisiert. Aber auch neue Aspekte und Begriffe wurden eingeführt, speziell aus den Bereichen Posture, Hip Design, Hold, Couple Position, Shape, Rotation, Foot Placement/Steps/Walks, Body Actions, Head Positions und Leading, um die nach heutigem Wissensstand korrekte Ausführung einzelner Aktionen und Figurenelemente möglichste präzise beschreiben zu können.

Sandro Cavallini

Sandro Cavallini

Nach meiner Ansicht wurde mit diesen Büchern ein grosser, wichtiger und längst fälliger Schritt vollbracht. Allerdings stösst man nun auch an die Grenze dessen, was in Buchform beschreib- und vermittelbar ist. Es braucht schon ein grosses KnowHow und Vorstellungsvermögen, um alle Punkte in den Büchern bis ins letzte Detail zu verstehen und richtig interpretieren zu können. An dieser Stelle wäre eine elektronische Version ergänzt mit graphischen Animationen und Videosequenzen von Demopaaren sehr hilfreich. Damit würde man nochmals in eine völlig neue Dimension vordringen, allerdings auch bezüglich Aufwand und Kosten.

 

 

Musicality and Identity

Luca Baricchi

Für Luca Baricchi gehört es zu den Voraussetzungen eines hochklassigen Paares, dass es ein hohes Mass an Bewusstsein und Gefühl für die Musik, insbesondere für die Feinheiten und Besonderheiten jedes einzelnen Musikstückes besitzt. Denn nur so kann man letztendlich die Musik bis ins kleinste Detail tänzerisch individuell interpretieren und ausdrücken. Es versteht sich natürlich von selbst, dass ein Paar dazu auch alle andern tänzerischen Grundvoraussetzungen (insbesondere Technik, Balancen und Körperbeherrschung) mitbringen muss.
Dass ein Tanz auch ohne die Musik zu hören erkennbar und bewertbar sein muss, ist eine an solchen Lehrgängen immer wieder geäusserte Forderung an die Paare, Trainer und Choreographen. Luca Baricchi ging noch einen Schritt weiter indem für ihn ein Tanz selbst dann noch erkennbar sein muss, wenn man die für jeden Tanz typischen Schrittmuster und Figuren gedanklich ausser Betracht lässt.
Einen Schwerpunkt setzte der Referent bei der Phrasierung. Seit der Einführung der Solotänze im Final ist dieses Thema wohl keine Option mehr, sondern eine Grundbedingung für eine musikalisch anspruchsvolle Choreographie. Dabei gilt es für den Wertungsrichter, die korrekte tänzerische Umsetzung von 2 Takt Konstrukten, 4 Takt Konstrukten und 8 taktigen Phrasen zu erkennen. Dabei ist es durchaus erlaubt und in wohl dosiertem Ausmass auf hohem Niveau sogar erwünscht, dass ein Paar die Akzente seiner Aktionen nicht immer nur regelmässig und vorhersehbar auf die Akzente der Musik setzt, sondern sich auch mal „antizyklisch“ verhält, indem es z.B. auf einen musikalischen Highlight bewusst mit einer „No Action“ d.h. mit einem Ruhepunkt reagiert. Ruhige Elemente bis hin zu Freezing Actions gehören für Luca Baricchi ohnehin zu den ganz wichtigen Elementen einer hochklassigen tänzerischen Darbietung.

 

 

Creativity in Latin Choreography

StokkeFür Peter Stokkebroe bestimmen besonders folgende Punkte eine gute Choreographie: – Bewusstsein für die Charakteristik des jeweiligen Tanzes – Partnerbezug – Rhythmische Strukturierung und Phrasierung – Kreativität – Gute Mischung von Advanced Basic Actions, komplexen Figuren und Tricks – Interaktion mit der Musik, dem Partner und dem Publikum – Durchgängigkeit/Fluss und die Betonung der Highlights Nebst einer guten Choreographie ist aber auch die Art und Weise wie ein Paar diese präsentiert, enorm wichtig. Mit der Darbietung soll ein Paar letztendlich auch eine Story erzählen und Emotionen vermitteln.
All diese Punkte müssen aber nicht nur über die gesamte Choreographie betrachtet erfüllt werden, sondern sie müssen bereits nach wenigen Takten erkennbar sein, indem die Choreo aus in sich abgeschlossenen kurzen Konstrukten (Modulen) aufgebaut ist, welche den gleichen Regeln wie die Gesamtchoreographie folgt. Highlights dürfen dabei nie isoliert erscheinen, sondern immer nur als Resultat eines Aufbaus, einer Entwicklung. Auch Tricks und Gimmicks gehören wohl dosiert zu einer guten Choreo, sie dürfen aber nicht dem Selbstzweck dienen sondern sie müssen immer Teil der Story sein. Aehnlich verhält es sich mit längeren Inline getanzten Abschnitten. Solche Elemente wiedersprechen zwar der Philosophie des Paartanzes und dienen oft nur zur reinen Selbstdarstellung des Herrn oder der Dame, passend und dosiert in die Story „eingepackt“, haben aber auch solche atypischen Elemente ihre Berechtigung.
Das alles tönt nun sehr theoretisch und kompliziert, besonders wenn ein Wertungsrichter nach diesen Vorgaben das Kriterium „Choreographie and Presentation“ bewerten muss. Doch Peter Stokkebroe verstand es hervorragend, mit seinen 4 Demopaaren die Theorie zu visualisieren und dabei sehr anschaulich gute Beispiele weniger guten gegenüber zu stellen. Zum Abschluss setzte Peter Stokkebroe mit seiner Frau Kristine der Lecture gleich selbst die Krone auf. Noch nie habe ich die Rumba „You Remember Me“ so gefühlvoll umgesetzt gesehen wie von diesem Paar an diesem Tag, Emotion pur, die lang anhaltende Standing Ovation war mehr als berechtigt.

 

 

Development and Creativity in Standard Choreography

Davide

Davide Cacciari

Davide Cacciari entführte uns mit Bildern und Videoclips zurück in die Anfänge des Paartanzes und zeigte die Entwicklung vom Ballroom-Dancing bis hin zum modernen Tanzsport auf, bei dem man seit einigen Jahren sogar mit angewandten wissenschaftlichen Methoden aus der Biomechanik und Physiologie versucht, die Performance noch weiter zu steigern. Die Folge davon ist eine stete Erhöhung von Bewegungsumfang, Geschwindigkeit, Dynamic, Volumen, Körperaktionen und -Effekten.
All diese Möglichkeiten abwechslungsreich und attraktiv auszunutzen, gehört für Davide Cacchiari zu einer kreativen Choreographie. Dabei soll die Mischung von linearen, links- und rechtsdrehenden, schnellen und langsamen Aktionen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Ebenso muss die Mischung von Advanced Basic, hochkomplexen Mustern und Tricks stimmig sein.
Der alten Diskussion ob Tanzen Sport oder Kunst sei begegnete Davide Cacciari mit der Definition des modernen Tanzsports als „Artistical Sport“ und dem Vergleich mit dem Ballett, der wohl eindrücklichsten Symbiose von Kunst und Hochleistungssport.
Er liess auch keinen Zweifel daran, dass die Entwicklung noch längst nicht abgeschlossen ist. Das bedingt aber auch, dass alle (d.h. Sportler, Trainer, Funktionäre und Wertungsrichter) bereit sind, Grenzüberschreitungen zu wagen und zu tolerieren, indem man z.B. Bewegungen und Aktionen von andern Tänzen und Tanzstilen übernimmt und in die Choreos einbaut oder bewusst die (Basic-) Regeln verletzt, um neue Aktionen und Effekte zu kreieren. Er machte jedoch auch deutlich, dass sich an solche Themen nur absolute Top-Paare wagen sollten, welche auch die notwendigen Voraussetzungen dafür mitbringen.
Denn immer wieder gehörten Äusserungen, dass früher bezüglich Technik und Qualität alles besser war und den Vorwürfen, dass die Paare heute nur noch nach dem Motto „höher, schneller, weiter“ über die Fläche rennen würden, trat er entschieden entgegen. In diesem Zusammenhang appellierte er eindrücklich an die anwesenden Wertungsrichter, aus Verantwortung gegenüber den zukünftigen Generationen, vom altbekannten loszulassen, über den eigenen Schatten und dessen was man selbst getanzt hat und kennt zu springen und Vorurteile und Wiederstände gegenüber der Entwicklung des modernen Tanzsportes abzulegen.
Ebenfalls hart ins Gericht ging Davide Cacciari mit der immer wieder aufkommenden Forderung nach mehr Basic-Steps in den Choreographien. Für ihn gehören zumindest bei Top-Paaren reine Basic-Schritte nicht in eine moderne Choreographie sondern zu übungszwecken in den Trainingssaal. Er verglich dies mit dem Ballett, wo man auf der Bühne zwar das vollendete Resultat, aber wohl kaum die täglich harte Arbeit an der Stange und den Basisübungen selbst, sehen möchte. Anders verhält es sich mit angewandten, abgeänderten und weiter entwickelten Basic-Elementen, ein absolutes Muss für hochklassige Choreographien.
Auch bei Davide Cacciari blieb es nicht bei der reinen Theorie. Was er unter modernen, kreativen Standard Choreographien versteht, demonstrierte er mit Hilfe von Benedetto Ferruggia und Claudia Köhler.

 

Bericht: Daniel Helbling

Bilder: Archiv df/WDSF

 

 

 

 

 

 

 

 

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