WM 10-Tänze 2011 in Shanghai
Ein Mega-Anlass in einer Mega-City
Das erste was dem Besucher in Shanghai auffällt ist die ungeheure Dynamik, die man in dieser Megacity der Superlativen sehen und spüren kann. 16 Mio Einwohner im Stadtzentrum, 24 Mio sind es im Ballungsraum. Mit einer Zunahme von 130 Einwohnern pro Stunde (!) gehört Shanghai zu den am schnellsten wachsenden Städten der Welt. Das momentan höchste Gebäude ist 492m hoch und man sieht im Häusermeer viele weitere Türme in den Himmel wachsen, denn gebaut wird rund um die Uhr. Mit der Maglev erreicht man in nur 7 Minuten den 30 Km ausserhalb der Stadt liegenden Flughafen Pudong International, die Spitzenbetriebsgeschwindigkeit der Magnetschwebebahn beträgt dabei 431km/h. Etwas ausserhalb von Shanghai liegen die längste Meeresbrücke (41 km) und der grösste Containerhafen der Welt. In nur wenigen Jahren hat sich Shanghai zur führenden Wirtschaftsmetropole in Asien entwickelt.
Shanghai wird oft auch als Perle des Orients bezeichnet. Und dieser Bezeichnung macht die am Huangpu-Fluss gelegene Stadt mit ihren eindrücklichen Bauten und Strassen auch alle Ehre. Von A wie Apple über O wie Omega bis Z wie Zara findet man auf den Prachts- und Einkaufsstrassen Huaihai Road, The Bund und Nanjing Road alle nur erdenklichen Label im Luxusgüterbereich. Vom Edelstein bis zum Rolls Royce ist hier alles erhältlich. Interessanterweise trifft man die Touristen in Hinterhöfen beim Erwerb von billigen Plagiaten, während die Chinesen in den sündhaft teuren Boutiquen und Luxustempeln die Originale erstehen.
Shanghai gilt vom Charakter auch als die westlichste Stadt Chinas. Da hat die Weltausstellung Expo 2010 sicher ihre Spuren hinterlassen. So sind z.B. die Strassen und U-Bahnstationen nebst Chinesisch auch mit westlichen Schriftzeichen angeschrieben. Als Besucher findet man sich somit sehr schnell zurecht. Und bezüglich Sauberkeit, Ordnung und Pünktlichkeit braucht sich die Stadt nicht hinter der dafür oft gerühmten Schweiz zu verstecken, im Gegenteil ….
Auch wenn man in 4 Tagen eine Stadt nur oberflächlich kennen lernen kann, so ist Shanghai doch die mit Abstand interessanteste und eindrücklichste Grossstadt die ich je besucht habe.
Tanzsport in Shanghai
Shanghai zieht nicht nur immer mehr westliche Firmen wie ein Magnet an, sondern auch Top Sportanlässe. Sei es Tennis, Golf, Reiten, Schwimmen oder Formel 1, immer mehr Sportarten führen hier ihre Weltmeisterschaften und Grand Slams durch. Somit erstaunt es auch nicht, dass die WDSF im 2009 und 2010 die Grand Slam Finals Standard/Latein und nun im 2011 die WM 10-Tänze hier durchgeführt hat. Mit einer gewaltigen Marketingmaschinerie wird der Tanzsport in China bekannt gemacht und gefördert. Besonders aktiv scheint hier Shanghai zu sein, haben sie doch den Tanzsport und die Stadt treffend im eigens kreierten Motto „The Dancesport – The City Vitality“ vereint. Im Vorfeld der 10-Tanz WM wurden überall in der Stadt auf grossen Screens und im Fernsehen Werbeclips für den Tanzsport und die WM gezeigt. Wenn man die perfekte Organisation und die Unterstützung dieses Anlasses (u.a. 30‘000 Euro Preisgeld) durch den Chinesischen Tanzsportverband sowie durch die Politik und Wirtschaft erlebt hat erstaunt es auch nicht, dass in den kommenden Jahren Shanghai nun regelmässig zum Mittelpunkt tanzsportlicher Top-Events werden soll, so z.B. bereits wieder im 2012 anlässlich der WM Youth Latein.
Mit grossem Engagement sollen natürlich auch die Chinesischen Paare sukzessive an die Weltspitze heran geführt werden, einige Paare sind bereits jetzt nicht mehr sehr weit davon entfernt. Interessanterweise sind aber auch in der breiten Bevölkerung die Gesellschaftstänze sehr beliebt. Mit grossem Erstaunen konnte ich an einem gewöhnlichen Montagabend erleben, wie Paare jeglichen Alters unter freiem Himmel in der Fussgängerzone von Shanghai bis spät in die Nacht hinein spontan zu bekannten Standard- und Lateinamerikanischen Rhythmen in einem sehr gepflegten Stil getanzt haben, notabene bei einer Temperatur um die 10 Grad. Kaum vorstellbar, was hier an einem heissen Sommerabend läuft.
WM 10 Tänze
Ich war in den vergangenen 15 Jahren schon in einigen Ländern an tollen Anlässen als Wertungsrichter zu Gast, die 10-Tanz WM in Shanghai toppt aber alle meine bisherigen Erfahrungen. Am Flughafen war der Empfang mit dem grossen WDSF-Logo und dem Namen nicht zu übersehen. Statt den üblichen Sammeltransporten zum Hotel, bei welchen man oft sehr lange auf nachfolgende Wertungsrichter oder Paare warten muss, gab es in China persönliche Einzeltransfers. Im Hotel (5* an zentraler Lage) hatte der Veranstalter gut sichtbar ausgeschildert in einem Nebenraum der Lobby das Turnierbüro für die Paare und Funktionäre bereits einen Tag vor dem Turnier eingerichtet und bis am Tag nach dem Turnier betrieben. Hier konnten bequem in aller Ruhe die Formalitäten erledigt werden.
Begrüsst wurden die Paare, Wertungsrichter und Funktionäre am Vorabend der WM mit einem 12- Gang Bankett im Diamond Ballsaal des Westin Centers, der offizielle Abschluss des Turnierwochenendes wurde am Sonntagabend im 49. Stock des Pullman Skyway Hotels mit einem grossen Buffet gefeiert. Doch nicht nur die Empfänge, sondern besonders auch die perfekte Organisation der gesamten Veranstaltung haben einen nachhaltigen, äusserst positiven Eindruck hinterlassen. Klare Informationen zum Tagesablauf, zuverlässige Transfers, gut strukturierte Einsatzpläne sowie ein präzises Timing haben beeindruckt, ja danach hätte man sogar Schweizer Uhren richten können. Angenehm war auch, dass der Wertungsrichtereinsatz zeitlich und bezüglich Anzahl der zu bewertenden Turnieren nicht überfrachtet war. So konnte man sich an beiden Tagen voll konzentriert und ohne Ermüdungserscheinungen den Akteuren auf der Fläche widmen. Zwischen den Runden konnte man sich in einem abgesonderten Raum gut entspannen.
Wie bei solchen Anlässen üblich, wurde auch diese WM mit einer eindrücklichen Zeremonie eröffnet. Nebst den obligatorischen Punkten (Ansprachen, Einzug der Sportler, Funktionäre und der WDSF-Fahne, Vereidigung der Sportler und Wertungsrichter, Nationalhymne des Gastgeberlandes) wurde auch eine informative Multimediashow über die Entwicklung des Tanzsports in Shanghai eingespielt. Das ganze wurde geschickt mit Live-Darbietungen gemischt. Das kleine Mädchen Alice im Wunderland hatte einen einzigen Traum, einmal eine erfolgreiche, berühmte Turniertänzerin zu werden — und dieser Traum wurde im ausverkauften Luwan-Stadion Wirklichkeit. Eine Inszenierung, die wohl bei manchem Zuschauer so richtig unter die Haut ging. Dass die Eröffnungsfeier allerdings nicht am Anfang der WM sondern erst am Abend vor dem Semi-Finale stattfand, finde ich persönlich sehr schade. Denn von den 34 an der Zeremonie teilnehmenden Paaren waren zu diesem Zeitpunkt ja bereits 21 Paare ausgeschieden.
Bei Turnieren wo ich als Wertungsrichter im Einsatz bin/war, verzichte ich prinzipiell auf eine detaillierte Paarkritik. Daher an dieser Stelle nur einige allgemeine Informationen und Kommentare :
Für die Paare sind grosse 10-Tanzturniere extrem anspruchsvoll. Um 8 Runden an einem Tag ohne Einbruch zu tanzen, benötigt man eine enorme Kondition. Sehr anspruchsvoll ist aber auch der mehrmalige Wechsel zwischen den Disziplinen. Und das gelang nicht allen Paaren gleichermassen gut. Interessant war der Vergleich mit dem Sonntag, wo sich einige 10-Tanzpaare am International Open auf ihre Hauptdisziplin konzentrieren konnten und dadurch teilweise deutlich bessere Leistungen als am Vortag zeigten.
Zurück zur Weltmeisterschaft. Den Spagat zwischen den Disziplinen am besten meisterte das dänische Paar Björn Bitsch / Ashli Williamson. Im Standard beherrschten sie das Feld deutlich, aber auch in ihrer „schwächeren“ Disziplin Latein zeigten sie eine ansprechende Leistung und gewannen dadurch den Titel und das Preisgeld von 3‘000 Euro, nur 2 Wochen nachdem bereits ein anderes dänisches Paar (Emanuel Valeri / Tania Kehlet ) Weltmeister in den Standardtänzen wurde. Es ist interessant zu sehen, wie ein Land in vergleichbarer Grösse zur Schweiz, innerhalb nur weniger Jahre aus der tanzsportlichen Krise heraus zurück an die Weltspitze gefunden hat.
Genauso wie die Dänen im Standard, dominierte das russische Paar Timor Imametdinov / Ekaterina Nikolaeva das Feld in den Lateintänzen. Schwächer war hingegen ihr Auftritt in der Standardsektion. Sie erreichten mit 4 Punkten Rückstand auf die Dänen Rang 2 gefolgt vom kanadischen Paar Anton Belyayev / Antoaneta Popova, welches mit einer ausgeglichenen Leistung auf den 3. Platz tanzte.
Die Final-Resultate im Detail:
Das chinesische Paar Tan Ran / Tan Rong tanzte genau in die Mitte der Rangliste und erreichte den 17. Rang. Ich bin überzeugt, dass wir in Zukunft noch weit mehr von den chinesischen Paaren sehen werden. Leider hat sich kein Paar aus der Schweiz der Herausforderung in Shanghai gestellt. Schade, auch wenn die Spitzenplätze an der WM sicher nicht in erreichbarer Nähe lagen, so wären besonders an den beiden International Open Plätze im Mittelfeld durchaus realistisch gewesen. Im schlechtesten Fall konnte jedes Paar immerhin über die 2 Tage 6 Runden tanzen. Verbindet man eine solche Reise zusätzlich mit einem (Kurz)urlaub, so lohnt sich der Aufwand allemal.
Auch für die Wertungsrichter ist die Bewertung eines 10-Tanz-Turniers eine besondere Herausforderung. Nach Abschluss einer Disziplin gilt es, die gewonnenen Eindrücke von den Leistungen der Paare in nur wenigen Minuten zu vergessen oder zumindest auszublenden, damit die Bewertung der nachfolgenden Disziplin in keiner Weise beeinflusst wird.
Shanghai International Open Standard und Latein
Am Tag nach der WM wurden die International Open Standard mit 45 Paaren und Latein mit 64 Paaren durchgeführt. Vom Gastgeberland nahmen 22 Paare (Standard) resp. 38 Paare (Latein) teil. Nach der Weltmeisterschaft 10-Tänze konnten die Dänen auch das Standard-Turnier am Sonntag für sich entscheiden und zusätzliche 2‘000 Euro Preisgeld mit nach Hause nehmen. Zweite im Standard wurden Martin Dvorak / Zuzana Silhanova aus der Tschechischen Republik, die vierten der WM. Ebenfalls den Sprung aufs Siegerpodest gelang dem deutschen Paar Anton Skuratov / Alena Uehlin mit Rang 3, am Vortag erreichten sie an der WM Rang 9. Das beste Chinesische Paar erreichte mit einer ansprechenden Leistung verdient den 8. Platz.
Im Latein konnten sich die Dritten der WM, Anton Belyayev / Antoaneta Popova aus Kanada den Sieg und 2‘000 Euro Preisgeld sichern. Eine kleine Sensation gelang dem Paar Hou Yao / Zhuang Ting aus Shanghai, welches den 2. Rang erreichte und dabei dem Siegerpaar noch 2 Tänze abnahm. Interessant zu beobachten war, dass das einheimische Paar von den Zuschauern kaum angefeuert wurde. Entweder ist dies in China nicht üblich, oder die chinesischen Besucher identifizieren sich (noch) nicht mit den Tanzsportlern oder es wird ein Spitzenplatz ohnehin vorausgesetzt bzw. erwartet. Der dritte Platz ging im Latein an das russische Paar Popov Denis / Ryzhonina Daria.
Abgerundet wurde die auch am Sonntag perfekt organisierte Veranstaltung mit Turnieren für Professionals, Youth und Senioren.
Am Montag konnte ich dann bei einer ausgedehnten Stadterkundung nochmals erleben, dass das Motto der WM „The Dancesport – The City Vitality“ auch sehr treffend zu dieser faszinierenden Stadt passt.
Alle Tanzbilder: Helmut Roland
Alle Reisebilder: Daniel Helbling