„Schlangen im Bauch“
Simone Toellner hat uns einen speziellen Bericht vom Advents-Turnier im Catwalk, Winterthur gesendet. Ein interessanter Bericht, einmal aus anderer Perspektive…
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Zwischen Drill und Ästhetik: Ein Blick hinter die Kulissen des Wettkampftanzsports.
Im Hintergrund des halb besetzten Turniersaals perlt ein langsamer Walzer aus der Lautsprecherbox. Es ist 12.40 Uhr, Eintanzzeit für die Junioren und Senioren in der Winterthurer Tanzschule „Catwalk“. In zwanzig Minuten werden die ersten Jugendpaare gegeneinander im Standardtanzen antreten. Der Wettkampf vor dem 4. Advent- jedes Jahr ein Highlight im regionalen Sporttanzkalender. Doch die entspannte Atmosphäre, die runden silbernen Bistrotische, gedeckt mit Tee, Kaffee oder Bier, hausgemachtem Kuchen oder Sandwiches, erinnert vielmehr an ein lockeres Kaffeekränzchen. Elegant dahinschwebende Tanzpaare in atemberaubenden, glamourösen Kleidern, ganz mit der Musik verschmolzen zogen noch vor einigen Jahren die Massen an. Heute setzt sich das Publikum weitgehend aus Familienangehörigen und Freunden zusammen. Ein Umstand, der nachdenklich und neugierig macht. Wie läuft ein Tanzturnier ab, wie ticken Wettkampftänzer eigentlich und was unterscheidet Turniertanzen von anderen Sportwettkämpfen?
Geschminkt, gepudert und gegelt
Auf diesem, wie auf den meisten kleinen Tanzturnieren, gibt es nur eine Unisex-Toilette für Besucher und Tänzer. Am Eingang vor dem Spiegel steht Daniel Buhala der amtierende Schweizer Meister der Hauptkategorie S-Standard.
Mit seiner Partnerin Julia Arnet gehört er zum Kader des Schweizer Tanzsports. Er färbt sich das Gesicht und die Brust mit einem stark deckenden Camouflage Make-up dunkelbraun ein. Neben ihm pudert sich ein Tanzkollege das Gesicht mit einem dicken Pinsel ab, um die letzten Glanzspuren zu beseitigen und die Camouflage wasserfest zu machen. Beide werden im nächsten Turnier der Hauptkategorie Latein an den Start gehen. Im Gegensatz zu vielen anderen Sportarten spielt die Ästhetik im Tanzen eine entscheidende Rolle: „Als Lateintänzer sollte man braun sein, zumindest an den Stellen die nicht von der Kleidung bedeckt sind. Die Haare müssen beim Herrn wie bei der Dame streng nach hinten gegelt oder gekämmt werden, um den Blick auf das Gesicht freizugeben“, erklärt Daniel Buhala.
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Saal 3: Umziehen und Aufwärmen
Gegenüber dem Toilettenausgang befinden sich die Umkleideräume. Schwarze und weisse Kleidersäcke hängen neben- und übereinander an der Wand, Alltagskleider liegen auf dem Boden, Strassenschuhe und Schuhsäcke stapeln sich übereinander, dazwischen stehen dicht die Sporttaschen. Der Saal 3, ein kleinerer Raum mit grosser Spiegelwand, steht den Tänzern nicht nur als Umkleide, sondern auch zum Aufwärmen und Eintanzen zur Verfügung.
Eine Tänzerin in einem silbernen Kleid mit lametta-ähnlichen Fransen sitzt im Spagat auf dem Boden und dehnt ihren Oberkörper. In der Mitte des Saales übt ein Paar der Junioren Latein-Kategorie nochmals ihre Schrittfolge. Laut zählt der Herr des Paares den Takt mit: „1, 2, 3 Cha-Cha-Cha und gleich noch einmal.“ Am linken Rand des Saals befestigt eine ganz in lindgrüne Seide gekleidete Tänzerin ihrem Partner die Startnummer 55 am Rücken. Danach träufelt sie sich mit einer Pipette ein paar Tropfen auf die Zunge. „Bachblüten gegen die Aufregung!“, gesteht die zierliche Frau lächelnd und erklärt: „Vor jedem Turnier habe ich noch immer Schlangen im Bauch.“
Das Senioren III S-Standardpaar Myrtha Lienhard und Eduard Gaiser tanzt bereits seit 1980 miteinander und ist bis heute im Wettkampfsport aktiv. Die S-Klasse, auch Sonderklasse, ist die höchste Stufe, die ein Paar im Tanzsport erreichen kann. Auch Myrtha und Eduard haben einmal „klein“ angefangen und sich von der untersten Klasse D und C, über die B- und die A-, in die S hoch getanzt. 2006 wurde das Paar in seiner jetzigen Klasse Schweizer Meister. Für solche Erfolge muss man hart trainieren. Viele Tänzer üben jeden Tag mehrere Stunden bis die Fusssohlen brennen. Eduard und Myrtha treffen sich mindestens dreimal wöchentlich im Trainingssaal des Vereins Dance Unlimited (DUZ) in Zürich Oerlikon, am Wochenende nehmen Sie sogar noch Einzelstunden bei ihrem Trainer Martin Sturm (Profitänzer). „Tanzen ist mein Leben“, bestätigt Myrtha, die bereits über 70 ist, ihr wahres Alter aber nicht verrät. Eduard ergänzt: „Tanzen hält den Körper und den Geist fit, es ist wesentlich aufregender als stundenlang durch den Wald zu joggen. Zudem erfordert es viel körperliche Kondition, vor allem mit einer Tanzpartnerin wie Myrtha, die einfach nicht müde wird.“ Langsam wird es für die Beiden Zeit, sich nach vorne zu begeben, um die Wettkampffläche auszutesten. Myrtha, nun merklich entspannt, streckt Eduard grazil ihren Arm wie beim Menuetttanz entgegen und beide entschweben in Richtung Turniersaal.
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Tanze Tango mit mir
Der rot-gold geschmückte Christbaum neben der Theke, hinter der der DJ und Moderator die Musik für die Tanzpaare auflegt, strömt weihnachtliche Wärme aus.
Livemusik gibt es nur noch selten, getanzt wird heute meistens nach CD.
Letzte Besucher kommen vom Eingang im ersten Stock die Treppe in den Tanzsaal herunter. Sogar ein kleiner Hund ist dabei. Zwei junge Tänzerinnen überqueren die Fläche. Ihre Haare tragen sie wie Jennifer Lopez im Film „Shall we dance“ streng nach hinten zu einem mit Perlennadeln und Strassbändern geschmückten Chignon gesteckt.
Langsam kommt Leben in den Turniersaal. Das vor einer halben Stunde noch halb verwaiste Parkett beginnt unter den Sohlen der eintreffenden Tanzpaare zu vibrieren.
Auch an den Turntables hinter dem Christbaum werden nun heissere Rhythmen aufgelegt. Der DJ spielt einen sinnlichen Tango – ein Hauch von Eleganz, Erotik, Dekadenz löst den
gemächlich – bourgeoisen Walzertrott ab. Lange, schleichende Gehschritte folgen auf kleine, zackige Schritte, fliessende auf abgehackte Bewegungen, das ruhige Dahingleiten der Oberkörper bildet einen Gegenpol zu den ruckartigen Drehungen der Köpfe.
13.10 Uhr. Der Saal ist voll besetzt. Die Aufregung unter den Tänzern steigt, die Schuhsohlen werden nochmals aufgerauht, die Frisur überprüft und der Sitz der Kleidung kontrolliert. Auch im Saal ist die Spannung spürbar, einige der Trainer geben den Tänzern letzte Anweisungen, manch ein Elternteil klopft seinem Sprössling ermutigend auf’s Schulterblatt.
Die Zuschauer haben sich an den Tischen um die Tanzfläche zu einzelnen Fangruppen formiert, die sich unverkennbar aus ganzen Familien zusammensetzen – angefangen bei der Mutter, über die Oma bis zum Grossonkel.
Acht Paare im Alter zwischen 6 und 15 Jahren gehen an den Start. Um die Fläche haben sich die fünf Wertungsrichter verteilt, die während des Turniers die Paare anhand einer verdeckten Wertung beurteilen. Da alle Herren am Rücken eine Startnummer befestigt haben, sind die Paare auch beim Tanzen einfach zu identifizieren. Getanzt werden alle fünf Standardtänze, Langsamer Walzer, Tango, Wiener Walzer, Slowfox und Quickstep, in zwei Runden zu jeweils vier Paaren.
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Kleine Tänzer ganz gross
Bereits nach dem ersten Tanz, dem Langsamen Walzer, zeigt sich, für welches Paar die meisten Zuschauerherzen schlagen: für die mit Abstand jüngsten Tänzer dieser Klasse, Philipp Hofstetter und Estella Schell mit der Startnummer 6. Da sich nicht genug Schüler für dieses Turnier angemeldet haben, dürfen die beiden in der Junioren-Kategorie (ab 12 Jahren) mittanzen. Philipp ist acht, Estella ein Jahr älter und knapp einen halben Kopf grösser als ihr Tanzpartner.
Trotz ihres Grössenunterschieds geben die beiden ein schönes Paar ab: er blond und hellhäutig, sie schwarzhaarig mit einem bronzefarbenen Hautton und exotischem Aussehen. Beide tanzen seit eineinhalb Jahren miteinander, ihr erstes Turnier bestritten sie im Februar 2009. Es ist erstaunlich, wie ernst und zugleich gelassen die beiden Kleinsten auf der Tanzfläche wirken. Oftmals sind sie nicht ganz im Takt oder verlieren ihre Haltung.

Im nachfolgenden Turnier in den lateinamerikanischen Tänzen läuft es noch besser: Philipp und Estella erreichen den 3. Platz
Im Gegensatz zu den älteren und geübten Paaren wirken ihre Bewegungen manchmal steif dennoch tanzen sie unbeschwert und ohne Ressentiments. Mit Leichtigkeit meistert das Paar alle Tanzrunden und erntet noch einen Sonderapplaus vom Publikum für ihren Slowfow. Dieser gilt als schwerster der fünf Standardtänze. Die Grundtechnik der Schritte steckt schon im Namen, der übersetzt „langsamer Fuchs“ bedeutet. Wie ein Fuchs im Wald soll das Tanzpaar über die Fläche schnüren. Diese Kunstfertigkeit müssen Philipp Hofstetter und Estella Schell noch etwas üben, letztendlich hat ihr Können sie aber bis ins Finale gebracht und sie haben sich den 5. Platz in den Standardtänzen ertanzt.
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Feurige Rhythmen und erotische Posen

Erst noch in der Umkleide, jetzt auf der Tanzfläche. Daniel Buhala und Julia Arnet, Sieger des Lateinturniers.
Das nächste Turnier der Hauptakegorie Latein (ab 19 Jahren) startet mit einiger Verspätung um 15.00 Uhr. Getanzt werden Samba, Cha-Cha-Cha, Rumba, Paso Doble und Jive. Mit den ersten feurigen lateinamerikanischen Rythmen schwingt die Stimmung im Saal komplett um. Das Publikum lässt sich von den auf der Fläche herumwirbelnden Tänzern, ihren glitzernden hautengen Kleidern und erotischen Hüftbewegungen mitreissen. Jede akrobatische Pose der Paare wird mit einem extra Applaus und lautem Rufen der Startnummer belohnt.
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Tanzen gehört dazu!
18.30 Uhr. Die aufgeheizte Stimmung im letzten Wettkampf der Senioren III S-Standard bleibt ungebrochen. Myrtha und Eduard geniessen als Publikumslieblinge ihren Auftritt auf der Fläche. „Hopp 55″ tönt es immer wieder von allen Seiten. Für die Zuschauer etwas unverständlich erreichen Sie im Finale „nur“ den 3. Platz, da die Bewertungen den jeweiligen Schiedsrichter obliegen. Das Paar 55 ist dennoch mit dem Ergebnis und seiner Leistung zufrieden. Tanzen ist nicht messbar, sondern unterliegt, wie alle Sportarten die mit Kunst zu tun haben, subjektiven Beurteilungen. Mit „ungerechten“ Bewertungen muss ein Tänzer leben können, sonst darf er diesen Sport nicht ausüben. Bedauerlicherweise wird heute mehr für das Schiedsgericht als für das Publikum getanzt. Warum aber die Massen den Tanzturnieren fernbleiben, liegt einerseits an der mangelnden Werbung der Veranstalter, anderseits daran, dass der öffentliche Publikumstanz im Anschluss an die Turniere gestrichen wurde. Vor 10 bis 15 Jahren gingen viele Besucher auf einen Wettkampf, um hinterher selber noch das Tanzbein schwingen zu können. Martin Sturm, Profitänzer und Trainer, geht noch einen Schritt weiter: „Früher gehörte Gesellschaftstanz einfach zum guten Ton. Ich selbst wurde damals von meiner Mutter mit den Worten: „Junge, als Mann von Welt musst du zumindest einen Langsamen Walzer tanzen können!“ in die Tanzschule geschickt! Heute ist er, zumindest momentan, aufgrund gesellschaftspolitischer Veränderungen ein wenig in den Hintergrund getreten. Bleibt zu hoffen, dass er bald seinen Stellenwert im gesellschaftlichen Leben zurückerobert, wo der Gesellschaftstanz definitiv seinen Platz zu finden hat, denn: „Tanzen gehört dazu!“
Text und Bilder: Simone Toellner
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